Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
»Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?«
Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.
Johann Wolfgang von Goethe (1779):
Die Ballade vom Fischer
Interpretation
Goethes Ballade Der Fischer (1779) beschreibt die geheimnisvolle und verführerische Macht der Natur und die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur. Die Handlung dreht sich um einen Fischer, der von einer Wasserfrau verführt wird, die ihn mit ihrer betörenden Stimme und der Verheißung von Ruhe und Einklang in die Tiefe zieht. Der Text entfaltet eine vielschichtige Symbolik, die verschiedene Interpretationen zulässt.
Handlung und Struktur
Die Ballade ist in acht Strophen verfasst, in denen sich der Dialog und die Entwicklung der Geschichte entfalten. Die ersten beiden Strophen stellen den Fischer vor, der am Ufer eines Flusses sitzt und fischt. Die Natur wird in verführerischen Bildern beschrieben, und das Wasser wird als lebendiges, fast menschliches Wesen dargestellt.
Im weiteren Verlauf erscheint die Wasserfrau und spricht zu dem Fischer. Sie fragt ihn, warum er die Fische aus ihrem „kühlen Revier“ holt, und stellt den Fischer vor eine Art moralisches Dilemma: Seine Jagd auf die Fische wird als Eingriff in die Natur und als potenzielles Unrecht dargestellt. Die Wasserfrau spricht von der Ruhe und Harmonie des Wassers und lädt den Fischer ein, zu ihr zu kommen, und durch ihren Reiz und die sinnliche Sprache fühlt sich der Fischer immer mehr angezogen. Am Ende der Ballade ist der Fischer in das Wasser gestiegen und verschwindet in den Tiefen, als wäre er mit dem Wasser und der Natur verschmolzen.
Symbolik und Interpretation
- Das Wasser: Wasser steht in der Dichtung oft für das Unbewusste, die Gefühle und das Verborgene. In Goethes Ballade hat das Wasser eine verführerische und zugleich tödliche Wirkung, die den Fischer in seinen Bann zieht. Es symbolisiert die Kräfte der Natur, die einerseits faszinierend und lebendig, andererseits unkontrollierbar und gefährlich sein können. Das Wasser könnte zudem als Allegorie für die Grenzen des Menschlichen stehen – der Mensch fühlt sich zur Natur hingezogen, ist aber nicht Teil davon.
- Der Fischer: Der Fischer verkörpert den Menschen, der mit der Natur interagiert, sie nutzt und sie erforscht. Seine Faszination für das Wasser könnte die Sehnsucht des Menschen nach dem Geheimnisvollen oder nach einer Einheit mit der Natur darstellen. Durch die Begegnung mit der Wasserfrau wird der Fischer jedoch selbst Teil des Wassers, was auf eine romantische Vorstellung der Verschmelzung von Mensch und Natur hindeutet.
- Die Wasserfrau: Sie ist eine typische Figur der Romantik und steht für die weibliche, verführerische Seite der Natur, die den Menschen lockt und ihn aus seiner rationalen Welt entführt. Sie könnte als Symbol für die Verführung und die Gefahr der Hingabe an das Unbekannte verstanden werden. In der Romantik findet man oft ähnliche weibliche Wasserwesen, die ihre Opfer ins Wasser locken, wie z. B. die Loreley oder die Nixe.
Themen der Ballade
- Faszination und Gefahr der Natur: Goethe zeigt, dass die Natur eine doppelte Rolle spielt – sie ist faszinierend, schön und lebendig, aber auch mächtig und unberechenbar. Der Mensch fühlt sich von der Natur angezogen, doch wenn er ihr zu nahe kommt, kann er sich in ihr verlieren.
- Verführung und Hingabe: Die Wasserfrau symbolisiert die Verführungskraft des Geheimnisvollen. Der Fischer gibt sich ihrer Macht hin, indem er sich von ihrer Stimme locken lässt und schließlich ins Wasser steigt. Diese Hingabe kann als eine Art existenzieller Schritt verstanden werden, in dem der Mensch bereit ist, seine rationale Welt zu verlassen und sich der Natur hinzugeben.
- Die Sehnsucht nach der Einheit mit der Natur: Goethe greift hier ein zentrales Thema der Romantik auf – die Suche nach einer verlorenen Einheit mit der Natur. Die Ballade schildert die Sehnsucht nach einer Rückkehr in einen Zustand der Harmonie und des Einsseins mit der Natur. Indem der Fischer am Ende in die Fluten steigt, erfüllt er gewissermaßen diese Sehnsucht.
- Grenzen des Menschseins: Der Fischer wagt sich in ein Gebiet vor, das ihm eigentlich fremd ist. Die Begegnung mit der Wasserfrau könnte daher auch als Metapher für den Übergang in eine andere Welt oder den Schritt über die Grenze des Menschseins verstanden werden.
- Das hinterlistige Töten der Menschen: Die Wasserfrau beklagt das Anlocken und Töten der Meerestiere und ihrer Brut.
Stilistische Mittel
Goethe nutzt in Der Fischer mehrere sprachliche Mittel, um die Atmosphäre der Ballade zu gestalten:
- Personifikation: Das Wasser wird in den ersten Strophen als lebendiges Wesen dargestellt, das eine eigene Stimme und Gefühle hat.
- Vergleich und Metaphorik: Die Verlockungen der Wasserfrau sind poetisch und symbolisch formuliert, wodurch sie anziehend und mystisch wirken.
- Reim und Rhythmus: Der gleichmäßige Rhythmus und die Reime verstärken den Fluss des Textes, was der Natur und dem Wasser eine melodische, hypnotische Qualität verleiht.
Schlussbetrachtung
Der Fischer ist eine Ballade über die Grenzen des Menschseins und die Verlockungen, die jenseits dieser Grenzen warten. Goethe bringt hier auf poetische Weise die Spannung zwischen Mensch und Natur, zwischen Vernunft und Gefühl sowie zwischen Sicherheit und Risiko zum Ausdruck. Der Fischer, der sich ins Wasser begibt, ist ein Symbol für den Menschen, der sich von der Vernunft löst und sich den Kräften der Natur hingibt – mit der Gefahr, in ihr unterzugehen und sich selbst zu verlieren.